Medizinische Sachverständige, Behandlungsfehler und Arzthaftung

Der Patient oder ein Familienangehöriger haben den Verdacht, dass bei einer ärztlichen Behandlung etwas schiefgelaufen ist und dem niedergelassenen Arzt, dem Zahnarzt oder im Krankenhaus ein Behandlungsfehler unterlaufen ist.

Natürlich müssen Fehler nachweisbar sein. Dafür spielen Gutachten medizinischer Sachverständiger oft eine entscheidende Rolle.

Gutachter des Medizinischen Dienstes

Die Frage, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, muss nicht direkt vor Gericht geklärt werden. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kann die erste Anlaufstelle sein und in vielen Fällen zur Klärung beitragen.

Die Krankenkasse wird nach Schilderung des Vorfalls einen Gutachter des Medizinischen Dienstes einschalten. Dieser gibt eine Einschätzung ab, ob der Verdacht auf einen Behandlungsfehler plausibel ist, oder ob es sich um Probleme und Komplikationen handelt, die bei der vorliegenden Erkrankung, Behandlung oder Operation nun einmal auftreten können. Falls der Verdacht eines Behandlungsfehlers sich tatsächlich erhärtet, wird ein ausführliches Gutachten erstellt.

Dieses Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse ist eine wichtige Grundlage, um mit dem Haftpflichtversicherer des Arztes und/oder des Krankenhauses einen außergerichtlichen Vergleich zu schließen. Wenn der Arzt, das Krankenhaus oder die Versicherungsgesellschaft sich nicht auf einen außergerichtlichen Vergleich zu angemessenen Bedingungen einlässt, bleibt als nächster Schritt die Klage vor einem Zivilgericht. Auch im Gerichtsverfahren stellt die gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes ein wichtiges Beweismittel dar.

Gutachten der Schlichtungsstellen der Ärztekammern

Eine zweite außergerichtliche Anlaufstelle sind die Ärztekammern. Die Landesärztekammern haben in jedem Bundesland Gutachterkommissionen eingerichtet. Diese haben ebenfalls die Aufgabe, bei einer außergerichtlichen Einigung zwischen Arzt und Patient mitzuwirken.

Dazu holt die Schlichtungsstelle auf Antrag des Patienten die Krankenunterlagen der behandelnden Ärzte, Befunde oder Gutachten ein. Anschließend wird ein geeigneter Gutachter ausgewählt, der einen Fragenkatalog ausarbeitet.

Abgearbeitet wird dieser Fragenkatalog schließlich von einem externen Gutachter im Rahmen eines Sachverständigengutachtens. Dieses Gutachten wird doppelt geprüft: sowohl von einem Arzt der Schlichtungsstelle als auch von einem Juristen. Dabei ist es durchaus möglich, dass Jurist, Arzt und Gutachter zu unterschiedlichen Ansichten kommen.

Die Schlichtungsstelle gibt am Ende eine Stellungnahme dazu ab, ob dem behandelnden Arzt ein vorwerfbarer Behandlungsfehler unterlaufen ist, durch den beim Patienten ein Gesundheitsschaden eingetreten ist oder in Zukunft eintreten kann. Die Entscheidungen der Gutachterkommission können als Feststellung oder als Empfehlung formuliert werden.

Auf Grundlage der Stellungnahme und des Gutachtens kann der Patient gemeinsam mit seinem Rechtsanwalt dann in Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer seine Ansprüche gegen den Arzt geltend machen. Voraussetzung ist natürlich, dass ein Behandlungsfehler bejaht worden ist. Außerdem steht es dem Patienten frei, eine Klage einzureichen, wenn er mit der Entscheidung der Gutachterkommission nicht einverstanden ist oder kein außergerichtlicher Vergleich zustande kommt.

Der Sachverständige im Arzthaftungsprozess

Nicht immer lassen sich die Probleme außergerichtlich lösen. Möglicherweise gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob tatsächlich ein Behandlungsfehler vorliegt. Oder vielleicht entspricht das, was der Haftpflichtversicherer an Schadenssumme und Schmerzensgeld anbietet, nicht dem, was den Folgen des Behandlungsfehlers aus Sicht des Patienten angemessen ist. Dann muss ein Richter entscheiden.

Die Fragen, die das Gericht in diesem Fall klären muss, sind vor allem medizinischer Art. Da Richter keine Experten für Medizin sind, kann das Gericht einen Sachverständigen beauftragen. Dieser hat die Aufgabe, den medizinischen Sachverhalt zu bewerten, Schlussfolgerungen zu ziehen und so dem Gericht eine Entscheidungsgrundlage zu liefern.

Dazu muss sich der Sachverständige bei der Erstellung seines Gutachtens an den Beweisfragen orientieren. Deren Grundlage bildet die Vorschrift des § 630a Absatz 2 BGB: Die Behandlung eines Patienten muss stets nach den zum jeweiligen Zeitpunkt allgemein anerkannten fachlichen Standards erfolgen.

Das Gericht wird deshalb vom Sachverständigen wissen wollen,

  • welche medizinischen Standards im konkreten Behandlungsfall gelten,
  • ob es im vorliegenden Fall zu Abweichungen von diesen Standards gekommen ist, und
  • wenn ja, ob die Abweichungen sinnvoll oder möglicherweise notwendig waren.

Wenn ein möglicher Befunderhebungsfehler (Diagnosefehler) im Raum steht, müssen die entsprechenden Fragen ebenfalls in den zur Erstellung des Gutachtens erforderlichen Beweisbeschluss aufgenommen werden. Der Sachverständige muss schon deshalb dazu Stellung beziehen, weil es im Fall eines Befunderhebungsfehlers zur Beweislastumkehr kommt.

Der medizinische Standard

Eigentlich ist es ja klar, dass die ärztliche Behandlung nach allgemein anerkanntem fachlichen Stand und damit nach dem medizinischen Standard erfolgen sollte. Gemeint ist damit der Facharztstandard des jeweiligen Fachgebiets. So sieht dies auch die Rechtsprechung: Führt der Arzt eine Behandlung durch, verpflichtet er sich, diesen Standard einzuhalten.

Nur: Was ist unter dem medizinischen Standard konkret zu verstehen? In vielen Arzthaftungsprozessen steht genau diese Frage im Zentrum: Wie sieht der medizinische Standard im vorliegenden Fall aus?

Darauf gibt es nur selten eine einfache und auf Anhieb offensichtliche Antwort. Zum einen lässt sich der medizinische Standard nur umschreiben. Außerdem entwickelt sich dieser gemeinsam mit dem Stand der Wissenschaft weiter. Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden viele kardiologische Behandlungen, die heute per Katheter erfolgen, am offenen Herzen ausgeführt. Das wäre in diesem Fall inzwischen nicht mehr der medizinische Standard.

Gemessen wird die Behandlung durch den Arzt immer an den medizinischen Standards, die zum betreffenden Zeitpunkt gegolten haben. Umgekehrt entspricht eine Behandlung nicht den vorgeschriebenen Anforderungen, wenn bereits eine neue, medizinisch erprobte Methode zur Verfügung steht, die in Kliniken oder Arztpraxen mehrheitlich zur Anwendung kommt.

Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen

Bleibt die Frage: Wer entscheidet darüber, was zum Zeitpunkt der Behandlung den Standard ausmacht? Dieser bildet ja die Grundlage für das Gutachten des Sachverständigen. Wichtige Hinweise können sogenannte medizinische Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen sein. Ein Sachverständiger sollte sie, soweit sie einschlägig sind, in seinem Gutachten deshalb heranziehen.

  • Wissenschaftliche Fachgesellschaften erarbeiten in regelmäßigen Abständen sogenannte medizinische Leitlinien (unterteilt in S1-, S2- und S3-Leitlinien). Es handelt sich dabei um wissenschaftlich begründete, an der Praxis ausgerichtete Entscheidungshilfen für Ärzte bei typischen Problemen, mit denen Patienten einen Arzt aufsuchen.Allerdings haben diese Leitlinien nicht einfach den Stellenwert als Definition des medizinischen Standards und dürfen nicht mit diesem gleichgesetzt werden (BGH, 15.04.2014 – VI ZR 382/12a). Selbst, wenn das Sachverständigengutachten zum Ergebnis kommt, dass der behandelnde Arzt gegen eine von den Fachgesellschaften erstellte Leitlinie verstoßen hat, folgt daraus nicht zwingend ein Behandlungsfehler. Es kann ja gute Gründe gegeben haben, weshalb der Arzt gerade in diesem Fall von der Leitlinie abgewichen ist. Allerdings sollte er diese Entscheidung zumindest dokumentiert haben und begründen können.
  • Richtlinien, die unter anderem von der Bundesärztekammer herausgegeben werden, basieren dagegen auf einer gesetzlichen Grundlage. Sie gelten sozusagen als abstrakte Handlungsanweisungen und geben den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wieder.Verstößt der behandelnde Arzt gegen eine solche Richtlinie, kann das recht schnell als Verstoß gegen ärztliche Standards verstanden werden, wenn er dafür keine nachvollziehbaren Gründe angeben kann. Im Einzelfall muss der Sachverständige trotzdem sorgsam klären, ob Indizien für einen Behandlungsfehler vorliegen.
  • Bloße Empfehlungen sind deutlich weniger verbindlich als eine Leitlinie oder Richtlinie. Trotzdem sollte der Sachverständige im Gutachten gegebenenfalls hinterfragen, weshalb der behandelnde Arzt von einer einschlägigen Empfehlung abgewichen ist.

Die Aufgabe des Sachverständigen besteht im Arzthaftungsprozess also unter anderem in der Prüfung, ob der behandelnde Arzt die einschlägigen Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen eingehalten hat.

Wenn sich herausstellt, dass die Behandlung nicht dem Facharztstandard entsprach, haftet der Arzt selbst dann für die Folgen, wenn er subjektiv entschuldbar gehandelt hat. Das ist beispielsweise der Fall, wenn die für die Ausbildung des Arztes verantwortlichen Kollegen überlastet waren und er deshalb die einschlägigen Leitlinien oder Richtlinien nicht kannte.